Inhalt: Nach einem Autounfall wird der suspendierte Sonderermittler Vogel mit retrograder Amnesie und blutbeflecktem Hemd ins Krankenhaus von Avechot eingeliefert. Vor wenigen Wochen war Vogel nach Avechot gekommen, um im Fall der vermissten 16-jährigen Anna Lou zu ermitteln. Schnell war klar, dass der Sonderermittler seine eigenen Ziele verfolgte. Psychiater Dr. Flores wird dazugeholt, um Vogel zu befragen, denn dieser ist beim Unfall unverletzt geblieben – woher also stammt das Blut?
Was ein Drache denkt: ‘Der Nebelmann’ ist einer der beiden Titel, die ich mir für mein Berufsschulreferat ausgesucht habe. Brandneu und aus der Abteilung Literatur. Ohne diesen Zwang hätte ich das Buch wahrscheinlich nie gelesen. Es ist schon länger her, dass ich einen Krimi oder Thriller oder überhaupt einen Titel aus der Literatur gelesen habe …
Die Geschichte beginnt damit, dass sich Vogel im Behandlungszimmer von Dr. Flores wiederfindet, ohne Erinnerung an die Geschehnisse vor seinem Unfall. Vorsichtig beginnt Flores nachzuforschen und Vogel beginnt mit seinem Bericht an dem Punkt, an dem er Avechot zum ersten Mal betreten hat: Zwei Tage nach dem Verschwinden. Die Kapitel sind immer dementsprechend betitelt, was mir sehr gefiel, da man als Leser merkte, dass man der Lösung näher und näher kam. Ein Countdown, der am 62. Tag nach dem Verschwinden bei Flores und Vogel im Krankenhaus endet.
Zunächst wird die Geschichte aus Vogels Sicht erzählt. Er ist ein Ermittler der anderen Sorte; er bedient sich der Medien, um einen Fall so aufzubauschen, dass nicht nur lokale Nachrichtensender sich auf das gefundene Fressen stürzen, sondern auf Privat – und Nationalsender. Je größer das Publikum, desto mehr Ruhm, desto mehr Rampenlicht. Borghi, Vogels Partner, und ich wussten nie, woran wir bei Vogel waren. Vertrauten wir ihm? Vertrauten wir ihm nicht? Seine unkonventionelle Methode behagte mir nicht, da mir schien, das Schicksal des Mädchens interessierte ihn kein bisschen. Der Einsatz und die Präsenz der Medien mochte ich ebenfalls nicht, die interessierte Anna Lou nur wegen der Einschaltquoten. In der Öffentlichkeit trägt Vogel eine Maske, doch immer wieder blitzt sein wahres Ich in seinen Handlungen oder Gedanken durch. Vogel hat eine kühle Besessenheit an sich, die auf Selbsterhaltung baut. Auch wenn ich ihn nicht besonder mochte, ist er eine realistisch und sehr gut geschriebene Figur.
Wir alle sehnen uns nach einem Ungeheuer, Doktor. Wir alle haben das Bedürfnis, uns besser vorzukommen als andere. Ich habe den Leuten nur gegeben, was sie wollten.
Irgendwie schafft er es, dass das Mädchen völlig in den Hintergrund rutscht und auch ich musste mich manchmal daran erinnern, dass es um Anna Lou ging. Ich war sehr froh, dass es keinerlei sexuelle Gewalt oder Übergriffe oder Ähnliches gab, sonst hätte ich das Buch sicher abgebrochen. Anna Lou kommt überhaupt nur in einem Kapitel selbst vor – am Tag des Verschwindens. Auch hier wird von Gewalt abgesehen.
Avechot. Dieses kleine Städtchen im Alpenraum (glaube ich mich erinner zu können; auf jeden Fall in den Bergen) ist ein Alptraum. Nach außen hin geben sich die Familien harmonisch, solidarisch, christlich und hilfsbereit. Probleme werden hier in der Familie gelöst. Jeder kümmert sich eigentlich nur um sich selbst. Vor diesem Hintergrund ermittelt Vogel, was sich als schwieriger herausstellt, als erwartet.
Der zweite Teil wurde aus der Sicht des Hauptverdächtigen erzählt. Zwei Tage vor dem Verschwinden. Aber nie das Verschwinden selbst. Der Hauptverdächtige beteuert seine Unschuld. Vogel macht ihm das Leben zur Hölle, bis die beiden Handlungsstränge aufeinandertreffen und sich verdrehen. Dieser Perspektivenwechsel hat mir Vogel nicht unbedingt sympathischer gemacht. Das Ganze erinnerte mich an Kafkas ‘Der Prozeß’: Ein Unschuldiger, der alle Anschuldigungen über sich ergehen lassen muss und schließlich hingerichtet wird.
Wie die beiden Stränge, Perspektiven, sich verheddern und vermischen, wird es wirklich spannend. Vorher zog sich das Buch an manchen Stellen, da nicht wirklich was passierte. Ab diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass ich den Täter hatte. Carrisi schaffte es, mich meine Meinung noch mehrere Male ändern zu lassen. Es folgte Schlag auf Schlag. Das letzte Drittel war enorm spannend, ohne die ‘langweiligen’ Stellen wären die Auflösung und der Schluss niemals so packend und überraschend gewesen.
Carrisis Stil ist flüssig und ich habe mich schnell an ihn gewöhnen können. Plötzliche Profanitäten in einer handvoll Dialogen oder Gedanken waren eine Art Schock-Effekt für mich. Es passte einerseits gar nicht zum Stil, andererseits war es wie ein Riss in den Masken der jeweiligen Figuren, die langsam die Nerven verloren. Bestimmt beabsichtigt!
Lieblingsfiguren: Borghi
Fazit: Ich bin keine große Thriller-Leserin, wenn es keine Kinderthriller sind, doch ‘Der Nebelmann’ hat mich positiv überrascht. Kein Blut, keine beschriebene Gewalt. Die Idee der zwei Perspektiven hat mir sehr gut gefallen. Die Figuren waren weder schablonenhaft noch zweidimensional. Geniale Auflösung und fantastischer Schluss!
Details zum Buch:
- Autor: Danato Carrisi
- Titel der Originalfassung: La ragazza nella nebbia
- Übersetzerin: Karin Diemerling
- Seitenanzahl: 333
- Verlag: Atrium
- Umschlag: Gebunden
- Erscheinungsdatum: 04.08.2017
- ISBN: 978-3-85535-016-2