Dan Simmons’ Bücher Ilium (2003) und Olympos (2005) sind eine faszinierende Mischung aus dem Trojanischen Krieg, Shakespeares The Tempest, Proust, Cyborgs und kleinen grünen Männchen. Hört sich verrückt an, zählt aber sicherlich zu dem Besten, was die Science Fiction zu bieten hat, besonders im Hinblick auf die Antikenrezeption.
Kommen wir zunächst zum Inhalt, den ich nur kurz skizzieren werde, um zukünftigen Leserinnen und Lesern nicht die Spannung zu nehmen:
In der Zukunft lassen Wesen in Form der Olympischen Götter auf dem Mars den Trojanischen Krieg nachspielen, wobei sie verschiedene Historiker, Philologen etc. wiederbeleben, damit diese den Krieg unter Anleitung der Musen dokumentieren und Abweichungen von der antiken Überlieferung festhalten. Diese Expertinnen und Experten beobachten also das ihnen aufgrund ihrer ursprünglichen Berufe bestens vertraute Geschehen, wobei sie mit Hilfe der den “Göttern” zur Verfügung stehenden Technik in verschiedene Rollen schlüpfen können, jedoch nicht aktiv in die Handlung eingreifen. Einer dieser wiederbelebten Fachmänner ist Dr. Thomas Hockenberry, ein klassischer Philologe aus dem 21. Jahrhundert n.Chr., der in innergöttliche Intrigen verwickelt wird und dadurch seine Position als reiner Zuschauer verlässt. So kommt es, dass er sich auf eine Affäre mit Helena einlässt, der durch die Prophezeiungen Kassandras bewusst ist, dass der Krieg nur mit dem Untergang Trojas und schrecklichen Schicksalen für die dort lebenden Menschen enden kann. Gemeinsam mit anderen berühmten Frauen des trojansichen Sagenkreises überzeugt Helena Hockenberry, aktiv in die Ereignisse einzugreifen, um dieses Ende zu verhindern. Tatsächlich gelingt es Hockenberry aufgrund seines Fachwisssens, den Trojanischen Krieg vollständig auf den Kopf zu stellen, sodass letztlich Achilles ein Bündnis mit Hektor schließt und Achaier (Griechen) und Trojaner gemeinsam den Göttern den Krieg erklären statt einander bis zur Zerstörung Trojas zu bekämpfen. Derweil müssen sich auf einer postapokalyptischen Erde die letzten Menschen aus der Vormundschaft von Robotern befreien und wieder lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, während weit fortgeschrittene Cyborgs aus fernen Ecken des Sonnensystems zurückkehren müssen, um eine große Katastrophe zu verhindern. [Unter dem Bild geht es weiter.]
Die Antikenrezeption erfolgt in Simmons’ Büchern in einer Intensität und auf einem Niveau, wie man es wohl nur sehr selten vorfindet. Der Autor hat sich äußerst intensiv und durchaus wissenschaftlich in die Überlieferung zum Trojanischen Krieg und die damit verbundene Forschungsliteratur eingearbeitet, wie man besonders schön an der folgenden Szene erkennt, die von Sarah Annes Brown in einem Aufsatz zur Antikenrezeption in der Science Fiction (s.u.) hervorgehoben wurde:
Um mit Achilles reden zu können, schlüpf Hockenberry in die Rolle von dessen altem Erzieher Phoinix, weil er weiß, dass dieser in der Ilias gemeinsam mit Ajax und Odysseus im Zelt des Achilles ein wichtiges Gespräch führen wird. In diesem Kontext lässt Simmons Hockenberry über die Sonderbarkeit dieser Szene sinnieren, da es grundsätzlich schon einmal ungewöhnlich ist, dass dem alten Phoinix, der bis zu dieser Stelle überhaupt nicht in der Ilias erwähnt wird, hier gemeinsam mit Ajax und Odysseus eine prominente Rolle zufällt. Hinzu kommt ein sprachliches Problem, da Homer (oder wer auch immer) an dieser Stelle ein Verb in einer Form verwendet, die sich auf zwei Akteure bezieht, weshalb es sonderbar ist, dass es mit Ajax, Odysseus und Phoinix drei handelnde Personen gibt. Zwar macht sich Hockenberry Gedanken über dieses Forschungsproblem, doch hat er letztlich andere Sorgen, da es derzeitig sein Ziel ist, mit Achilles zu sprechen. Doch zu seiner Überraschung wird Phoinix abweichend vom Text der Ilias nicht zum Gespräch mit Achilles eingeladen – was aus oben genannten Gründen auch durchaus zu erwarten wäre. Hockenberry muss nun schnell reagieren und behauptet, Agamemnon habe kurzfristig entschieden, dass er an der Runde teilnehmen sollte. Mit Hilfe dieses Kniffs verwebt Simmons seine Geschichte auf das Engste mit der Ilias, indem er diese sonderbare Stelle in der homerischen Überlieferung eben durch das Eingreifen Hockenberrys erklärt, wodurch letztlich die paradox erscheinende Situation entsteht, dass Simmons Werke den oder die Dichter der Ilias beeinflussten. Eine weniger komplexe, aber dafür sehr humorvolle Stelle ist ähnlich konzipiert, wie Sarah Annes Brown mit Recht anmerkt. Hier trifft Odysseus auf einen Cyborg, der mitteilt, dass er “no man” sei. Diese Aussage gefällt Odysseus, der verspricht, sich dies zu merken. Bekanntlich gibt sich der homerische Odysseus in der Odyssee als “Niemand” (no man) aus, was nicht unwichtig für den weiteren Handlungsverlauf ist.
Solche Feinheiten erschließen sich natürlich nur denjenigen, die sich schon einmal intensiver mit dem Trojanischen Krieg auseinandergesetzt haben. Nichtsdestotrotz ist im Allgemeinen kein großes Hintergrundwissen für Ilium und Olympos notwendig, da alle wichtigen Zusammenhänge in verständlicher Form erklärt werden. So kann man letztlich sagen, dass man bei der Lektüre dieser gelungenen Science Fiction-Romane zahlreiche Bezüge zum Trojanischen Krieg, zu Shakespeare und zu Proust genießen kann oder eben ganz nebenbei auf unterhaltsame Weise einiges darüber lernt. Und ganz nebenbei sind Ilium und Olympos die besten Beispiele zur Widerlegung des Vorurteils, dass Science Fiction eine nur minderwertige Literaturform sei.
Weiterführende Literatur:
Sarah Annes Brown: ‘Plato’s Stepchildren’: SF and the Classics, in: L. Hardwick/Chr. Stray (Hgg.): A Companion to Classical Receptions, Oxford e.a. 2011, S. 415-427.
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